| Der Tod und das Mädchen Selena   
 Sie rennt, rennt, und die Nacht 
    schirmt sie mit kühler, raunender Luft. Die Kälte wird nicht lange anhalten. 
    Bald wird die Sonne aufgehen, und der Sand, der ihre Flucht jetzt nur verlangsamt, 
    wird zu einer beißenden, glühenden Folter werden. Es ist ihr gleich. Das Blut 
    auf ihrem Körper und ihrem zerrissenen Kleid ist so trocken wie der Samen. 
    Es muß bereits Stunden her sein, aber das bedeutet nicht das Geringste. Dies 
    ist nicht ihr erster Versuch, und er hat sie immer, immer gefunden. Diesmal jedoch wird er ihr nicht folgen; der andere mag es tun, und daher 
    kann sie nicht aufhören, zu rennen, weit über jedes erträgliche Maß hinaus. 
    Als sie schließlich zusammen-bricht, ist sie nicht überrascht, zu spüren, 
    wie der stechende Schmerz in ihrer Brust seine Klauen durch ihren ganzen Körper 
    ausstreckt. Der Tod ist ihr vertraut. Seit dem Tag, an dem er ihre Welt zerstörte, 
    hat er ihre Seite nicht verlassen.
   
   "Du bist heute schon einmal 
    gestorben", sagte er und hielt sie fest, während sie vergeblich versuchte, 
    sich freizukämpfen. "Hat dir das gefallen?"Der Dolch, den sie kurz an sich hatte bringen können, war nun wieder in seiner 
    Hand. "Ich werde dich so oft töten, wie es nötig ist, um dich zu zähmen", 
    sagte er auf die gleiche sachliche Weise, in der sich ihr Vater, den er ebenfalls 
    getötet hatte, über die Sturheit der Jugend beschwerte. Und so starb sie zum 
    zweiten, aber nicht zum letzten Mal an diesem Tag. Er tötete sie noch zwei 
    weitere Male, vergewaltigte sie, wenn sie wieder zum Leben erwachte, und sie 
    hätte nicht sagen können, was er mehr genoß. Kein Mann ihres Stammes hatte 
    sie angerührt, was nicht nur an ihrem Status als Priesterin lag. Sie war ein 
    Geschenk der Götter, das hatte Hijad immer verkündet, ohne Eltern, die Anspruch 
    auf sie erhoben, größer als alle anderen Stammesmitglieder, und ihre Magie 
    flößte den anderen Ehrfurcht ein.         
    Nun, sie hatten sich alle geirrt, dachte sie bitter, als das Ungeheuer ihr 
    Zeit dazu gab. Alle, selbst Hijad. Die Magie, die Träume, die sie hatte, die 
    Augenblicke, in denen sie spürte, wie Erde, Wind und Sterne zu ihr sprachen, 
    nichts von all dem war in der Lage gewesen, ihr und ihrem Stamm Schutz zu 
    bieten. Jeder einzelne ihres Volkes war tot, wie das Ungeheuer ihr gesagt 
    hatte, und sie glaubte ihm. Jeder, und auch sie war es.
 Sie war tot, und er war derjenige, der über Magie verfügte, denn er rief sie 
    ins Leben zurück, immer wieder, zurück zu noch mehr Schmerz und Hilflosigkeit. 
    Es gab kein Mittel, um ihn aufzuhalten. Einmal gelang es ihr, ihn zu beißen, 
    so tief, daß sie sein Blut in ihrem Mund schmecken konnte, aber er lachte 
    nur, während sie beobachten konnte, wie die Wunde in Windeseile verheilte. 
    Danach zeigte er ihr, daß er ihre eigene Heilung zwar bewirken, doch auch 
    unendlich lange, und auf unendlich viele Arten, verzögern konnte.
 Ein furchtbarer Gedanke kam ihr, der ihren Verstand durchbohrte, während das 
    Ungeheuer ihren Körper pfählte. Wenn sie ihrem Stamm wirklich von den Göttern 
    gegeben worden war, dann als ein Fluch, um den Stamm zu zerstören, und der 
    Gott, von dem sie stammte, mochte sehr wohl dieses Wesen sein, das sich von 
    allen, die sie gekannt hatte, so gänzlich unterschied. Doch mit ihr hatte 
    er einiges gemeinsam; er war so groß wie sie, so langgliedrig wie sie, und 
    seine Augen waren nicht dunkel wie die ihrer Stammesleute, sondern hell, wechselshaft, 
    mit etwas von dem Grün ihrer eigenen Augen. Verzweifelt versuchte sie den 
    Gedanken zu verscheuchen, doch er hakte sich mit der gleichen tückischen Kraft 
    fest, wie es die Alpträume taten, von denen sie gelegentlich heimgesucht wurde: 
    Es war der Tod, der sie erschaffen hatte, und nun nahm er sie wieder zu sich.
   
   Als sie ihre Augen öffnet, 
    wird sie von der schrecklichen Helligkeit der Sonne beinahe geblendet. Sie 
    würgt und erbricht, was sie zuletzt gegessen hat. Wie lange ist das her? Erst 
    einen Tag, und doch scheint es viel länger zurück zu liegen. Während der Speichel 
    um ihren Mund schnell trocknet und ihre Augen zu tränen beginnen, schaut sie 
    sich um. Nichts, bis auf den Sand und die Luft, die nun still zu stehen und 
    jeden Atemzug aus ihrem Körper zu saugen scheint, statt ihn mit neuem Leben 
    zu erfüllen. Niemand ist hier, niemand. Sowohl Erleichterung als auch Verzweiflung 
    fallen ihr zu schwer; stattdessen erfüllt sie dumpfe Betäubung, stark genug, 
    um in ihr den Wunsch zu wecken, sich wieder hinzulegen und erneut zu sterben.Es würde nicht lange dauern, das weiß sie. Er hat sie bereits früher verdursten 
    lassen, um sie zu bestrafen. Diesmal zumindest gibt es keine quälenden Wasserschläuche, 
    die gerade außer Reichweite liegen, und sie ist an nichts gefesselt. Dennoch 
    gelingt es ihr irgendwie, aufzustehen und stolpernd weiter zu gehen. Sie bringt 
    es nicht mehr fertig, zu rennen, aber sie muß weiter, muß dieser Betäubung 
    entkommen, dieser Verzweiflung. Selbst der langsame, folternde Schmerz, den 
    ihr jede Bewegung bereitet, ist dem vorzuziehen.
 Erst Stunden später, als sie wieder stürzt und aufgehört hat, zu zählen, wie 
    oft sie dies bereits getan hat, formt sich eine Frage in ihr. Wieso kann sie 
    immer noch von den Toten auferstehen, obwohl er nicht mehr da ist, um sie 
    ins Leben zurückzurufen?
   
   An jenem ersten Tag hatte er 
    ihr seinen Namen genannt, aber sie weigerte sich lange, ihn auszusprechen. 
    Nach ihrem eigenen Namen erkundigte er sich nie, und nannte sie "Sklavin" 
    oder "Weib". Wenn die anderen Ungeheuer ihr einen direkten Befehl 
    gaben, der sich nicht an alle Sklaven richten konnte, was selten vorkam, nannten 
    sie sie "Methos Weib". Das machte ihr kaum etwas aus; es war 
    ihr sogar lieber als von ihnen bei ihrem Namen genannt zu werden. Namen bargen 
    Macht in sich; Namen zu benutzen, verband Menschen miteinander. Vielleicht 
    war sie vom Tod geschaffen worden, um ihren Stamm zu zerstören, aber sie brauchte 
    ihm nicht noch zusätzliche Macht über sich zu verleihen. Man hieß sie arbeiten, und auch das machte ihr nichts aus. Es verschaffte 
    ihr die Gelegenheit, mit den anderen Sklaven zu sprechen. Zum größten Teil 
    handelte es sich um Frauen, doch es waren auch einige Männer dabei. Als keines 
    der vier Ungeheuer in Hörweite war, schlug sie vor, sich zusammen zu tun. 
    Schließlich waren sie bei weitem in der Mehrheit. Warum sollte man das nicht 
    ausnutzen, alle vier nachts töten und dann fliehen?
 Die Frauen starrten sie an, als sei sie verrückt geworden, und fragten, ob 
    sie nicht bemerkt habe, daß die vier Dämonen waren, die über heilende Magie 
    verfügten.
 "Der Tod beschützt sie", sagte eine der Frauen, ein hübsches Mädchen, 
    das keine vierzehn Sommer hinter sich haben konnte, während die älteren sich 
    von der Neuen abwandten, die von Aufruhr sprach und Hoffnung zu erwecken suchte, 
    wo es keine Hoffnung geben konnte.
 "Das habe ich vermutet", antwortete sie, "aber sie können dennoch 
    niedergeschlagen werden, und gefesselt. Dann nehmen wir uns die Pferde und 
    verschwinden."
 Das Mädchen, das Adi hieß, schüttelte ihren Kopf, während die anderen sie 
    beide ignorierten. Doch sie blieb beharrlich, und bis der Abend dämmerte, 
    war es ihr gelungen, Adi zu überreden. An diesem Abend wurde Adi zu demjenigen 
    Ungeheuer gerufen, das Caspian genannt wurde, und in ihrer Jugend und Angst 
    verpatzte sie den Versuch, ihn zu töten. Im Gegensatz zu Adi gelang es ihr 
    selbst, ihren Herren mit einer Eßschale niederzuschlagen, aber sie kam nicht 
    weit, da sie auf Adi wartete.
 "Glaub mir", sagte der Tod, und Belustigung tanzte in seinen Augen, 
    wie an dem Tag, als er ihr das Schicksal ihrer Leute eröffnet hatte, "Sklaven, 
    die entkommen wollen, können sich kein Mitleid leisten. Du hättest nicht warten 
    sollen." Dann zwang er sie, zuzusehen, während Caspian Adi bestrafte, 
    indem er dem Mädchen bei lebendigem Leib die Haut abzog. Für Adi gab es keine 
    heilende Magie, nicht die geringste.
 "Und was ist mit der da?" fragte Caspian keuchend, als er zu einem 
    Ende gelangt war.
 "Sie wird hier sauber machen, nicht wahr, Mitleid?" gab ihr Herr 
    mit gleichbleibender Belustigung in seinen Augen zurück.
 "Laß uns auch mit ihr spielen", schlug Caspian vor.
 Adis Schreie zu hören, hatte sie fast alles an Entsetzen gekostet, das sie 
    empfinden konnte, und so spürte sie jetzt nur noch einen Hauch, ein verblassendes 
    Echo. Sie zuckte noch nicht einmal mehr zusammen. Der Tod bemerkte es und 
    schüttelte seinen Kopf.
 "Nein. Ich habe andere Pläne mit ihr."
 Caspian murrte ein wenig, aber wie es schien, hatte Adis Häutung ihn genug 
    befriedigt, um auf nichts weiterem zu beharren. Die Männer verschwanden, und 
    sie begann damit, sauber zu machen.
 Danach versuchte sie nie wieder, andere in ihre Fluchtpläne mit ein zu beziehen. 
    Nicht, daß ihr die übrigen Sklaven noch zugehört hätten. Keiner derjenigen 
    , die zu diesem Zeitpunkt mit den Reitern lebten, sprach nach Adis Tod je 
    wieder ein Wort zu ihr. Nicht, daß diese Sklaven sehr lange lebten. Manche 
    starben wie Adi, weil sie von einem der Reiter getötet wurden. Manche starben 
    an Wunden oder Infektionen. Manche wurden schlicht und einfach in der Wüste 
    zurückgelassen. Nach zwei Monaten holten sich die Reiter ein neues Dutzend 
    Sklaven, und "Methos Weib" war mit einem Mal die erfahrenste 
    Sklavin des Lagers. Diesmal, so schwor sie sich, würde sie es besser machen. 
    Sie war eine Heilerin. Sie würde Leben bringen, nicht den Tod, und sich nie 
    wieder als Mittel zur Zerstörung gebrauchen lassen.
   
   Leben, qualvolles Leben, das 
    sie von innen zerreißt, zwingt sie erneut ins Bewußtsein. Gewohnheitsmäßig 
    blickt sie sich um, aber wiederum ist er nicht da. Diesmal gelingt es ihr 
    nicht, sich zu erheben, also beginnt sie langsam, zu kriechen, bis sie sich 
    kräftig genug fühlt, um aufzustehen. Sie leckt sich schon lange nicht mehr 
    ihre aufgesprungenen Lippen; wie es scheint, ist sogar der Speichel in ihr 
    verdorrt. Dennoch bewegt sie sich weiter. Kann er sie aus größerer Entfernung 
    immer noch wieder erwecken? Ist der Zauber, mit dem er sie ans Leben gebunden 
    hat, ein dauerhafter, für den seine Gegenwart nicht mehr nötig ist? Oder ist 
    dies nur ein weiteres grausames Spiel, an dessen Ende er lachend auf sie warten 
    wird? Nein, dergleichen haben sie beide längst hinter sich gelassen. Sie hat 
    schon lange nicht mehr versucht, zu entkommen, seit.... Sie kann sich nicht 
    mehr erinnern, wie lange es her ist. Es ist wieder Nacht, also schaut sie zu den Sternen empor und versucht, zu 
    tun, was ihr früher so leicht fiel: die Zeit durch den Stand der Sterne zu 
    berechnen. Es ist so schwer wie damals, als Hijad begann, es ihr beizubringen 
    - als sei sie wieder zum Kind geworden. Es will ihr einfach nicht gelingen. 
    Die Sterne ergeben keinen Sinn mehr für sie. Es muß daran liegen, daß sie 
    ihm von den Sternen erzählt hat. War das der Zeitpunkt gewesen, an dem sie 
    aufhörte, fliehen zu wollen? Als sie ihm von den Sternen erzählte?
   
   Er nannte sie eine ganze Weile 
    lang Mitleid. Als sie begann, Selbstmord zu begehen, um ihm zu entkommen, 
    änderte er den Namen zu Torheit. Nach einem letzten Versuch, als sie sich 
    in einer Höhle versteckte, um ihrer Seele Zeit zu geben, ihren Körper zu verlassen, 
    aber wiederum erwachte, um ihn neben sich zu finden, begriff sie, daß sich 
    zu töten so nutzlos wie all die anderen Fluchtversuche war, die sie gemacht 
    hatte. Es blieb ihr nichts mehr, als sich ein neues Leben aufzubauen. Ihre 
    Magie mochte falsch oder böse sein, aber sie hatte noch immer ihre Erfahrung 
    als Heilerin, und so begann sie, zu heilen. Die anderen Sklaven erwiesen sich 
    als beschämend dankbar. Sie wußte, daß sie den Tod der anderen nicht ver-hindern, 
    nur etwas aufhalten konnte, aber es gab ihnen zumindest Hoffnung. Und ihr 
    gab es etwas zu tun, etwas, daß ihr die Möglichkeit verschaffte, über andere 
    Dinge als ihre eigene Hoffnungslosigkeit nachzugrübeln. Eine Zeit lang schlugen 
    die Reiter ihr Lager in den Bergen auf, und sie fand viele nützliche Kräuter 
    dort. Natürlich mußte sie erst um Erlaubnis fragen, und ihr Herr gewährte 
    sie ihr, nachdem er ihr einen seltsamen Blick zu warf. "Ich beneide dich", flüsterte Lystris in ihrem Fieber eines Abends, 
    als sie ihr etwas von einem der Heiltränke gab, die sie gebraut hatte.
 "Warum?" fragte die Frau, deren Herr sie nun wieder Mitleid nannte.
 "Du bist nur Methos Weib - du mußt nicht auch noch zu den anderen 
    gehen. Und er schlägt dich nicht."
 In dieser Woche hatte er sie in der Tat noch nicht geschlagen, aber sie wußte, 
    daß Lystris Annahme einen anderen Grund hatte. Nur ein Blinder hätte 
    nicht bemerken können, daß ihre Haut nie Flecken oder Schwellungen aufwies. 
    Ganz gleich, was er ihr antat, es hinterließ nie irgendwelche Spuren. Mittlerweile 
    war ihr sehr bewußt, wie ungewöhnlich das war. Er verkehrte gelegentlich auch 
    mit einigen der anderen Sklaven, aber sie blieb die einzige, mit der er seine 
    Magie teilte. Und bisher hatte keiner der anderen Reiter sie je angerührt.
 Eine kleine Stimme in ihr protestierte, daß als Sklavin bevorzugt zu werden 
    nichts war, auf das sie, die Priesterin ihres Stammes, stolz sein sollte, 
    aber sie verdrängte den Gedanken, sowie er ihr kam. Ob Priesterin oder Sklavin, 
    keiner der anderen Götter hatte ihr je geholfen. Für sie gab es nur noch einen 
    Gott, und was sie aus ihrem Leben machen konnte, hing davon ab, wie gut sie 
    seine Regeln befolgte.
 Plötzlich spürte sie ein Kribbeln in ihrem Körper, wie immer, wenn ihr Gott 
    oder seine Brüder sich ihr näherten. Sie hob ihren Kopf und betete, daß es 
    nicht Kronos mit der Forderung nach Lystris sein möge. Lystris würde sich 
    von ihrem Fieber erholen, aber nicht, wenn sie in dieser Nacht noch dienen 
    mußte, und außerdem konnte es in ihrem erschöpften Zustand sehr wohl sein, 
    daß die Frau Kronos genug mißfiel, damit er sie tötete.
 Ihre Erleichterung darüber, statt Kronos ihren Herren zu sehen, wandelte sich 
    schnell in Furcht. Was, wenn er ihr Tun mißbilligte, oder ihr einfach befahl, 
    keine Zeit mehr auf die anderen Frauen zu verschwenden, da sie nur lebte, 
    um ihm zu dienen?
 "Verzeih meine Kühnheit", sagte sie, "aber bitte, gestattete 
    mir, noch ein wenig bei ihr zu bleiben. Diese Sklavin braucht mich. Sie..." 
    verzweifelt suchte sie nach einem Argument, daß ihn überzeugen könnte, "ist 
    lebend viel nützlicher. Sie kennt bereits ihre Pflichten; eine neue Sklavin 
    müßte man erst lehren, und das würde viel Zeit kosten."
 "Zweifellos", erwiderte er, nickte und hockte sich neben sie. Er 
    nahm den Becher, den Lystris geleert hatte, und roch daran.
 "Sag", erkundigte er sich, "sind das die gleichen Kräuter, 
    die du benutzt hast, um die Dünne mit dem gebrochenen Bein gestern zu betäuben? 
    Haben sie eine beruhigende Wirkung? Wie nennst du sie?"
 Erleichtert, daß er nicht ärgerlich war, doch immer noch sehr vorsichtig, 
    da sich seine Stimmung jederzeit ändern konnte, schüttelte sie den Kopf.
 "Nein, es sind nicht die gleichen. Hier wurde das Fieber von Messerschnitten 
    verursacht, also habe ich..."
 Er hörte ihr zu und unterbrach sie kein einziges Mal, während sie von Kräutern 
    und Mixturen sprach und darauf achtete, ihre Stimme stets gesenkt zu halten, 
    damit weder er noch die kranke Lystris verstört wurden. Seine völlige Aufmerksamkeit 
    auf eine Art auf sich gerichtet zu spüren, die nichts bedrohliches in sich 
    barg, war ein seltsames, neues Gefühl. Er sah sogar anders aus - ernst, aber 
    nicht kalt, und als sie schließlich endete und er sie weiter befragte, hatte 
    seine Stimme ihren höhnischen Beiklang verloren.
 In jener Nacht tat er noch etwas anderes, das ihr neu war: er küßte sie. Er 
    hatte sie auf jede andere Weise berührt, von der Brutalität, die ihren ersten 
    Tag mit ihm ausgemacht hatte, zu der hintersinnigeren Demütigung, ihr zu zeigen, 
    daß er ihren Körper dazu bringen konnte, auf ihn zu reagieren, wenn er es 
    wollte. Aber er hatte sie nie geküßt.
 Es war die erste Empfindung, die er in ihr auslöste, die sie nicht haßte oder 
    fürchtete. Unwillkürlich schrak sie ein wenig zurück, obwohl sie längst gelernt 
    hatte, nichts mehr dergleichen zu tun, und bemerkte, daß er sie mit der gleichen 
    tiefen Neugier betrachtete, die er gezeigt hatte, als sie von Kräutern sprach.
 "Verrate mir deinen Namen", sagte er plötzlich.
 Das seltsame Gefühl, das er erweckt hatte, wurde wieder von Angst erstickt.
 "Lautet er nicht Mitleid?" gab sie mißtrauisch zurück, da sie eine 
    Falle fürchtete. "Oder Torheit?"
 "Hin und wieder", sagte er, und lächelte. "Heute nacht, denke 
    ich, lautet er Quelle. Quelle der Weisheit. Du kannst all diese Kenntnisse 
    unmöglich bei deinem Stamm erlangt haben, einige von den Kräutern wachsen 
    mit Sicherheit nicht da, wo ich dich gefunden habe. Also, woher weißt du von 
    ihnen?"
 Sie erstarrte, als er ihren Stamm erwähnte, aber wenn er es bemerkte, dann 
    zeigte er es nicht.
 "Wie waren Nomaden", entgegnete sie, "und wir wanderten sehr 
    weit. Auch hier sind wir bereits einmal gewesen."
 "Wirklich? Wie kannst du dir da sicher sein? Hier gibt es ganz gewiß 
    nichts, das bemer-kenswert genug ist, um sich daran zu erinnern."
 "Wegen der Sterne", sagte sie und wunderte sich, daß er nach etwas 
    so Selbstverständlichem fragte.
 Seine Augenbrauen kletterten nach oben.
 "Erzähl mir nicht, daß dein Haufen Wüstenratten schon so weit entwickelt 
    war."
 Verletzt ließ sie ihre so bitter erlernte Vorsicht fahren. "Wir können 
    nicht nur die Gegenwart aus den Sternen lesen, sondern auch die Zukunft, wenn 
    die Geister sie uns preisgeben", antwortete sie hitzig. Dann biß sie 
    sich auf die Lippen, denn nun war sie sicher, daß es sich nur um eine Falle 
    gehandelt hatte, um ihren Gehorsam zu prüfen, und daß sie elend versagt hatte.
 Zu ihrer Überraschung zuckte er nur die Achseln. "Dann laß uns nach draußen 
    gehen", murmelte er. "Lies die Sterne für mich."
   
   Langsam, mit entsetzlicher 
    Zähigkeit, erwacht das Wissen wieder in ihr und mit ihm eine vage Vorstellung 
    von möglichen Zielen. Kaufleute, die ihren Stamm besuchten, hatten oft Geschichten 
    vom prächtigen Ägypten berichtet, und sie hat sich immer danach gesehnt, es 
    eines Tages mit eigenen Augen zu sehen. Aber auch er hat gelegentlich Ägypten 
    erwähnt, wenn ihm danach war, ihr etwas zu erzählen, und daher beschließt 
    sie, sich nicht dorthin zu wenden.Gelächter steigt in ihr auf, und bricht als ein Krächzen aus ihr heraus; zu 
    einem anderen Geräusch ist sie mittlerweile nicht mehr fähig. Als ob sie irgend 
    etwas dergleichen beschließen könnte. Weiter zu gehen, am Morgen oder am Abend 
    zu sterben, die Hitze des Tages abzuwarten, weil sie in der Nacht länger laufen 
    kann, ehe sie zusammenbricht, ja, dergleichen kann sie beschließen, aber sonst 
    überhaupt nichts. Dennoch kann es nicht schaden, in Richtung Norden zu gehen. 
    Zu gehen. Zu stolpern. Zu kriechen. Gleich.
 Sollten ihr andere Reisende begegnen, so würden sie gewiß vor dem lebenden 
    Leichnam, zu dem sie inzwischen geworden ist, fortlaufen. Nachdem sie so oft 
    verhungert und verdurstet ist, daß sie sprüren kann, wie ihre Knochen aneinander 
    reiben, muß sie einem Dämon oder Ungeheuer ähnlicher sehen, als diejenigen, 
    vor denen sie flieht, es je getan haben. Ihr Kleid, das besondere Kleid, daß 
    er ihr von einer seiner Plünderungen mitgebracht hat - jenes Kleid, so wundersam 
    ohne Blut, Schmutz oder Rauchflecken - hängt in Fetzen an ihre herunter. Ihr 
    Haar ist ein schmutziges, verfilztes Gestrüpp, viel schlimmer, als es je war, 
    ehe er sie neu erschuf.
 Sie scheut vor der Erinnerung daran zurück, wie er ihr die Kunst beibrachte, 
    ihm zu gefallen, weit über bloßen Gehorsam hinaus. Umsonst, umsonst. Sie wünscht 
    sich, die Sonne würde die Erinnerung aus ihr herausbrennen, aber die Sonne 
    tut nichts dergleichen. Also vergräbt sie sich in Sand wartet wieder auf die 
    Nacht. Auf diese Weise kann die Sonne zumindest auch sonst nichts verbrennen.
   
   "Schau dich an", 
    sagte er und hielt den Bronzespiegel vor ihr Gesicht. "So ist es besser." 
    Sie nickte, scheu und gleichzeitig gewiß, daß es wirklich so viel besser war. 
    Anfangs war der Befehl, ihr eigenes Haar zu kämmen, eine Strafe für sie gewesen, 
    da der Vorgang sehr schmerzhaft sein konnte und er darauf bestand, daß sie 
    es schnell tat, damit sie keine Zeit verschwendete. Nun jedoch kämmte sie 
    sich ihr Haar, weil sie es so wollte. Auch sie dazu zu bringen, mit Kohle 
    und Henna ihr Gesicht zu verzieren, war einmal eine Disziplinierungs-maßnahme 
    gewesen, die sie übel genommen hatte, törichter Weise, denn nun erkannte sie, 
    daß sich in dergleichen zu üben dazu beitrug, sich ihres Herren noch würdiger 
    zu machen. Sie fürchtete ihn immer noch, aber mittlerweile empfand sie mehr Ehrfurcht 
    als Schrecken. Er war ein Gott, er war der Tod, und so war seine Gnadenlosigkeit 
    nur natürlich. Ihr gegenüber jedoch war er nicht mehr gnadenlos. Sie war seine 
    Erwählte, sie war das Leben, so wie er der Tod. Sie ergänzten einander. Deswegen 
    hatte er sie erschaffen, zu ihrem Stamm geschickt und sie dann wieder zu sich 
    genommen. Darin lag der Sinn von allem, was ihr geschehen war.
 Nun ging sie hoch erhobenen Kopfes durch das Lager, verteilte ihre Tränke 
    und verband die Verwundeten, und fürchtete die übrigen Reiter nicht länger, 
    zumindest nicht, soweit es ihr eigenes Schicksal betraf. Die Reiter waren 
    eine Geisel für alle anderen Menschen, aber sie, durch den Tod Erwählt, würde 
    nie wieder von ihnen verletzt werden.
 Sie brachte den Sklaven nicht nur Heilung. Die Reiter waren wieder in die 
    Wüstenländer gezogen, und diejenigen, die zu krank oder zu schwach waren, 
    wurden ohne Umstände zurückgelassen. Sie konnte die Vorstellung von ihrem 
    langsamen Tod in der Sonne nicht ertragen, und so gab sie ihnen Tränke, die 
    ihnen ein schnelles, schmerzloses Ende bereiteten, während sie die Unglücklichen 
    in ihren Armen hielt. In ihrem ersten Leben hatte sie noch nie ein anderes 
    menschliches Wesen getötet, und der bloße Gedanke hätte sie abgestoßen, aber 
    jetzt begriff sie, daß der Tod auch eine Gnade sein konnte, und war sie nicht 
    die Auserwählte des Todes?
 Einmal fragte er sie, was sie empfand, wenn die anderen starben. "Frieden", 
    antwortete sie wahrheitsgemäß. Er nickte, und plötzlich verstand sie. Genau 
    das war es, was er empfand, wenn er tötete. Die verstörende Erinnerung daran, 
    wie er den Arm eines kleinen Mädchens aufschlitzte, dann ihren Magen, und 
    schließlich ihren Hals, stieg in ihr auf, aber sie unterdrückte das Bild hastig 
    wieder. Dergleichen tat er nicht mehr. Nicht im Lager, und gewiß auch nicht 
    während der Raubzüge, obwohl sie da nur Vermutungen anstellen konnte. Nein, 
    ganz gewiß hatte er sich verändert, seit er sie auserwählt hatte. Lag nicht 
    ihre Aufgabe darin, die Klinge des Todes durch Gnade zu entschärfen?
 Die anderen Sklaven nannten sie Gnade, obwohl sie sich insgeheim nicht mehr 
    zu ihnen zählte.
 "Dein Weib wird überheblich, Methos", sagte Caspian eines Abends, 
    als die vier Brüder alle in Methos Zelt aßen. Ihr Herr lachte und meinte, 
    das sei sehr passend für ein so schwereloses Geschöpf. Silas, der mit dem, 
    was sie gekocht hatte, vollauf beschäftigt war, hatte die Bemerkung noch nicht 
    einmal gehört. Aber Kronos hörte sie.
 Sie selbst hatte Caspian nicht beachtet, einmal, weil es klüger war, in seiner 
    Gegenwart zu schweigen, und zum anderen, weil sie entschieden hatte, daß es 
    sich bei ihm nur um einen Dämon niederen Ranges handeln konnte, und weil sie 
    ihn haßte für das, was er Adi und zahllosen anderen angetan hatte.
 Doch Kronos ließ sich nicht so einfach ignorieren. Während sie die geleerte 
    Schale auflas, blickte sie hoch und bemerkte, daß er seinen Bruder dabei beobachtete, 
    wie dieser sie beobachtete.
 Es erfühlte sie mit Angst. Sie konnte nie vergessen, daß es Kronos gewesen 
    war, der sie, als er nach ihrem Vater schlug, zum ersten Mal getötet hatte. 
    Außerdem wußte sie sehr wohl, daß trotz all des Geredes von Brüderlichkeit 
    eine gewisse Rangordnung innerhalb der Reiter herrschte. Caspian und Silas 
    mochten niedere Dämonen sein, ja, aber Kronos besaß nicht Macht über diese 
    beiden, er stand auch mit ihrem Herren zumindest auf gleicher Stufe. Das begriff 
    sie nicht, denn war ihr Herr nicht der Tod? Er sollte allein herrschen. Allein 
    und ausschließlich.
 Gerade, als sie das dachte, wandte sich ihr Herr von ihr ab, um eine Frage 
    zu beantworten, die ihm Silas gestellt hatte, und Kronos schaute sie direkt 
    an. Es war verstörend. Es war, als ob er zum ersten Mal sie sah, keine gesichtslose 
    Sklavin, und sie war froh, daß sie ihren wahren Namen für sich behalten hatte. 
    Ihr Name stellte ihr letztes Stück unabhängige Macht und Schutz dar. Also 
    schluckte sie, befahl sich, stark zu sein und erwiderte den Blick genauso 
    direkt, betrachtete die schwarzen, vielfältigen Zeichen auf seinem Gesicht, 
    die Narbe und die Augen, die sich nicht wandelten wie die ihres Herren, sondern 
    von einem kalten, makellosen Blau waren. Es fiel ihr schwer, sich nicht abzuwenden, 
    aber es gelang ihr, sich zu behaupten. Sie war nun sicher vor ihm. Sie war 
    die Auserwählte des Todes.
 In dieser Nacht konnte ihr Herr nicht schlagen, und er befahl ihr, ihm eine 
    Geschichte zu er-zählen. Also erzählte sie ihm die Geschichte von den Fünf 
    Fingern, an die sie der Abend wieder erinnert hatte.
 "Der erste Finger sagt: Ich habe Hunger. Der zweite Finger sagt: Ich 
    habe aber nichts, das ich eintauschen könnte. Der dritte Finger sagt: Dann 
    laß uns einfach nehmen, was wir wollen. Der vierte Finger sagt: Und wenn uns 
    jemand erwischt? Der fünfte Finger sagt: Stehlt nur, wenn ihr wollt, aber 
    ich werde mich fern halten."
 Während sie erzählte, rollte ihr Herr von ihr weg, und sein Gesicht wurde 
    zu der nicht deutbaren Maske, die sich gleichermaßen zu Zorn oder Gelächter 
    entwickeln konnte.
 "Bist du dir bewußt, was du da sagst, Weib?"
 "Es ist eine Geschichte", erwiderte sie und rührte sich nicht. "Nur 
    eine Geschichte, wie du befohlen hast. Die Mütter meines Stammes benutzten 
    sie, um ihre Kinder damit zu lehren."
 "Und was wollten sie ihnen damit beibringen?" fragte er, immer noch 
    zurückhaltend.
 "Eine Wahl zu treffen, und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Jeder 
    Finger trifft seine eigene Wahl."
 Er rückte wieder näher, und sie fühlte, wie er seine Hände um ihren Hals legte.
 "Glaubst du wirklich", fragte er sehr, sehr leise, "daß ich 
    ein Kind bin, das man unterrichten muß?"
 Sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Ihr letzter Tod durch ihn lag schon eine 
    Weile zurück, aber sie hatte nichts vergessen, und sie wollte nicht wieder 
    erwürgt werden. Von allen Todesarten war dies die schmerzhafteste, bis auf 
    das eine Mal, als er ihren Magen geöffnet hatte. Sie zog es bei weitem vor, 
    erstochen zu werden. Das ging zumindest schnell.
 "Nein", antwortete sie, "ich glaube, daß du bist, was du bist."
 "Und was bin ich?"
 "Der Tod und ein Gott. Aber du wünschtest dir eine Geschichte."
 Diesmal spürte sie die Veränderung in ihm, ehe er sprach, und es war eine 
    Erleichterung. Er entspannte sich und meinte, aufrichtig belustigt: "Das 
    tat ich. Aber weißt du, was ich mir noch mehr wünsche?"
 Auch sie entspannte sich und spielte mit. "Was?"
 "Deinen Namen. Deinen wahren Namen. Und ich möchte, daß du mich bei meinem 
    Namen nennst."
 Es war das letzte Stück ihrer Unabhängigkeit. Sie erinnerte sich an Kronos 
    und schauderte. Er spürte es. Seine Hände lösten sich von ihrem Hals und wanderten 
    zu ihren Armen hinunter, während er mit den Fingerspitzen ihre Gänsehaut nachfuhr. 
    Sie holte tief Atem und traf ihre Entscheidung. Es war gefährlich, aber wenn 
    sie ihm auch dieses Letzte gab, dann würde sie ihm beweisen, daß sie nun wirklich 
    ganz und gar ihm gehörte, und er würde ihren Glauben nie wieder in Frage stellen.
 "Methos", sagte sie langsam, "mein Name ist Cassandra."
   
   Der Boden wird nun fester. 
    Wenn sie nicht bereits einem halben Dutzend Phantasmen nach-gejagt wäre, dann 
    wäre sie jetzt sicher, daß eine Oase in der Nähe sein muß, aber mittlerweile 
    ist sie nicht einmal mehr der Hoffnung fähig. Sie weiß nicht, was es ist, 
    das sie noch weiter-treibt. Kann der Wunsch zu überleben so stark sein? Er 
    muß ihr Überleben wünschen, sonst wäre sie gewiß inzwischen tot, wirklich 
    tot. Angesichts dessen, was er ihr angetan hat, sollte sie wünschen, tot zu 
    sein. Ah, aber das würde bedeuteten, daß sie seiner Macht niemals entkommen 
    würde, denn herrscht er nicht über die Toten? Also kriecht sie weiter. Ja, der Boden ist ganz bestimmt fester. Und ihre Finger bohren sich in etwas, 
    das auf gar keinen Fall irgend eine Art von Erde ist. Pflanzen, können es 
    Pflanzen sein? Etwas Stechendes, Schneidendes. Aber sie hat kein Blut mehr, 
    das sie geben könnte. Weiter. Weiter. Da. Der Boden wird wieder weicher, aber 
    diesmal... auch feuchter. Sie stellt sich vor, wie ihre trockene, trockene 
    Haut die Feuchtigkeit des Bodens in sich aufsaugt. So fühlt es sich an. Irgendwo, 
    in weiter Ferne, hört sie jemanden aufschreien, und das beruhigt sie seltsamerweise, 
    denn es scheint ihr zu beweisen, daß sie nicht wieder halluziniert. Weiter. 
    Mehr. Da. Ja, das ist Wasser. Sie trinkt nicht davon. Stattdessen zieht sie 
    sich weiter, noch ein letztes Mal, und rollt sich in das Wasser. Sie hat davon 
    geträumt, zu ertrinken. Der eine Tod, den er ihr nie gegeben hat.
 Er. Der Tod.
 Methos.
 
   "Ihr seid heute weit geritten", 
    sagte sie zu ihm, nachdem sie ihm einen Becher voll aus Früchten gepreßtem 
    Saft angeboten hatte. Sie kniete vor ihm nieder, um mit einem Stück Tuch den 
    Staub von seinen Händen zu wischen. Er nickte. Er war düster gestimmt, und doch nicht zornig, da war sie sicher. 
    Sie fuhr mit ihrer Arbeit fort und ging dazu über, sein Gesicht zu reinigen. 
    Er schaute sie an, und sie erkannte, daß er erschöpft war.
 Etwas löste sich in ihr, das sie nicht begreifen konnte, denn es war eine 
    Art beschützerische Zärtlichkeit, ein völlig unangemessenes Gefühl gegenüber 
    einem Gott. Auch in seinen Augen lag etwas Neues, etwas, das sich an sie wandte. 
    Zögernd berührte er ihr Gesicht. Sie wollte sprechen, aber sie wußte nicht, 
    was sie sagen sollte, wie sie das Gefühl in sich ausdrücken konnte. Dann kam 
    ihr ein Einfall. Sein Name. Jener so selten gebrauchte Name. Das würde ihm 
    erklären, was sie sagen wollte.
 Das kribbelnde Gefühl kroch in ihr hoch, und seine Hand sank herab, während 
    er sich erhob. Sie drehte sich um und stand ebenfalls hastig auf, denn es 
    war Kronos.
 "Meinen Glückwunsch, Bruder", sagte Kronos und blickte sie beide 
    an, sah sie beide, wie er sie vorher gesehen hatte, und die Angst stieg wieder 
    in ihr hoch. "Wie ich sehe, hast du sie in allem gut unterrichtet." 
    Er nahm eine der Früchte auf und drehte sie zwischen seinen Fingern. " 
    Und wie es scheint, hebt sie die besten Früchte für dich auf."
 Das tat sie, aber war das nicht angemessen? Die Sklaven, einschließlich derer, 
    die Kronos dienten, protestierten nie dagegen, denn sie wußten, wer sie war. 
    Auch sie durfte das jetzt nicht vergessen. Kronos hatte keine Macht über sie.
 Ruhig antwortete ihr Herr: "Sie sind nicht besser als die übrigen."
 "Vielleicht schmecken sie hier drin nur besser."
 Kronos kam näher, und diesmal spürte sie, wie seine Augen an ihr auf und ab 
    wanderten. Einmal, als sie für ihre wahre Berufung noch blind gewesen war, 
    hatte ihr Herr sie dadurch bestraft, daß er sie nackt ein einen Pfahl gebunden 
    und einen Wasserschlauch knapp außer Reichweite gelegt hatte. Die Sonne hatte 
    sie verbrannt, doch durch die heilende Magie des Todes war es nicht von Dauer 
    gewesen. So fühlte sie sich jetzt - verbrannt.
 "Du hast einiges aus ihr gemacht, nicht wahr?" höhnte Kronos.
 "Sie ist nicht anders als die anderen", entgegnete ihr Herr.
 Kronos wandte seinen Blick nicht von dem ihren. Sie wußten beide, daß dies 
    eine Lüge war. Sie war anders. Sie war Auserwählt.
 "Aber du bevorzugst sie vor allen anderen", fuhr Kronos fort, und 
    ließ das Lächeln aus seinem Gesicht verblassen, als Cassandra sich weigerte, 
    nachzugeben und die Augen zu senken. "Warum wohl?" fragte er in 
    einem plötzlich schneidenden Tonfall. "Du hängst doch nicht etwa an ihr?"
 Nun hörte sie die eisige Stimme des Todes. "Nein."
 Sie versuchte sich selbst an diesem Wort - an jemandem hängen. Nannte man 
    es so, dieses Gefühl von Zärtlichkeit und das Bedürfnis, jemanden beschützen 
    zu wollen? Und selbst, wenn dem so war, es ging Kronos nichts an. Ihr Herr 
    leugnete es ihm gegenüber zurecht. Es ging nur sie beide etwas an.
 Das Ableugnen schien Kronos zu gefallen, denn er lächelte wieder. "Nein, 
    so einen Fehler würdest du nicht machen, Bruder. Es ist nämlich an der Zeit, 
    die Kriegsbeute zu teilen."
 Das konnte nicht sein Ernst sein. Er hatte kein Recht auf sie. Ihr Herr warf 
    ihr einen Blick zu, und in seinen Augen stand nichts von dem, was sie vorhin 
    dort gesehen hatte. Sie glichen dem polierten Spiegel, den er ihr gegeben, 
    der goldenen Kette um ihren Hals, die er ihr geschenkt hatte - wiedergegebener 
    Glanz ohne jede Wärme. Sie schlossen Cassandra völlig aus.
 Kronos griff nach ihr und begann, sie hinter sich her zu ziehen.
 "Nein!" schrie sie und versuchte verzweifelt, sich von ihm zu lösen. 
    Das konnte nicht wahr sein. Es war eine Prüfung, eine weitere Prüfung ihres 
    Glaubens, ihrer Treue. Aber warum, wo sie ihm doch bereits alles gegeben hatte? 
    Warum?
 Während er ihr Handgelenk verdrehte, bemerkte Kronos: "Wie ich sehe, 
    hast du sie doch nicht völlig gezähmt. Das gefällt mir, Bruder."
 Ihr Herr wandte sich ab und schaute weder zu ihr noch zu Kronos. "Wenn 
    ich fertig mit ihr bin", fuhr Kronos fort und zerrte sie bis zum Eingang 
    des Zeltes, "gebe ich sie vielleicht an Caspian weiter."
 Da wußte sie, wie sie diese Prüfung, diesen Alptraum beenden konnte. "Methos, 
    bitte!" rief sie, und kümmerte sich nicht darum, daß Kronos hörte, wie 
    sie den Namen ihres Herren benutzte. "Bitte!"
 Aber das Ende kam nicht, der Alptraum war nicht vorbei. Denn Methos drehte 
    sich nicht um.
     
   Während sie zum Leben erwacht, 
    fühlt sie immer noch das gesegnete Wasser um sich, aber als ihre Augen wieder 
    in der Lage sind, zu sehen, entdeckt sie, daß es nicht tief genug ist, um 
    darin zu ertrinken. Es handelt sich um einen sehr flachen Teich. Sie dreht 
    sich um, und schluckt gierig, denn es ist ihr gleich, daß sie vorsichtig und 
    nur sehr langsam trinken sollte, und so stirbt sie wieder, und erwacht wieder, 
    diesmal mit etwas mehr Selbstbeherrschung. Inzwischen hat sich eine Gruppe 
    von Reisenden am Ufer versammelt, die nicht wagt, näher zu kommen und sie 
    aus dem Teich zu zerren, obwohl zwischen ihnen nur ein paar Schritte liegen. 
    Sie schauen sie mit einer Mischung aus Entsetzen und Ehrfurcht an. Sie erkennt 
    den Ausdruck nur allzu deutlich, denn er stand nur allzu oft in ihren eigenen 
    Augen. Sie rufen wieder, aber sie versteht ihre Sprache nicht. Ihre Füße finden festen 
    Boden, sie erhebt sich, und die Menschen verstummen wieder. Einer der Männer 
    trägt einen Beutel aus Schafsmagen, den er offenbar mit Wasser hatte füllen 
    wollen, was er jetzt jedoch nicht wagt. Sie zeigt darauf, dann auf den Boden. 
    Und ohne zu zögern, gehorcht er und legt ihn nieder. Was von ihren Muskeln 
    noch übrig ist, brennt wie Feuer, als sie auf das Ufer zu geht, doch es gelingt 
    ihr, ohne ein einziges Mal zu stolpern. Sie bückt sich. Einen Moment lang 
    wird ihr schwindlig, doch es gelingt ihr, den Beutel aufzuheben, ohne zu stürzen. 
    Die Reisenden sind noch weiter zurückgewichen.
 Bis die Dämmerung hereinbricht, haben die Reisenden dem Gespenst aus der Wüste 
    auch Nahrung und ein Kamel angeboten, damit es sie nicht verflucht. Das "Gespenst" 
    nimmt die Gaben huldvoll entgegen.
   
   "Methos", schrie 
    sie, und Kronos lachte. "Weiter. Noch einmal", sagte er. "Ich 
    höre dich gerne seinen Namen rufen. Es ist ja bloß das hundertste Mal. Aber 
    wir halten uns ja für etwas Besonderes, mein Mädchen, nicht wahr? Du bist 
    ein Nichts. Du warst immer ein Nichts. Du wirst immer ein Nichts sein!" 
    Von Kronos vergewaltigt zu werden, unterschied sich nicht so sehr davon, von 
    Methos vergewaltigt zu werden, und war dennoch schlimmer. Bei Methos wußte 
    sie anfangs noch gar nicht, was sie erwartete, also war ihre Furcht geringer, 
    und später konnte sie es meistens vermeiden, wenn sie die Regeln befolgte. 
    Und dann war es ohnehin anders geworden, zu etwas, das ihr nichts mehr ausmachte.
 Bei Kronos wußte sie genau, was auf sie wartete, und das war schon schlimm 
    genug. Aber das Schrecklichste lag darin, was durch die Vergewaltigung zerstört 
    wurde. Ihr Körper hatte nicht mehr ihr selbst gehört, seit sie zum ersten 
    Mal gestorben war; ihr Körper hatte Methos gehört. Zunächst, weil er ihn sich 
    genommen hatte, und später, weil ihr Körper für sie zu einem Geschenk geworden 
    war, daß sie ihm aus eigenem freien Willen gab.
 Weil er sie erwählt hatte, weil sie für ihn etwas Besonderes war.
 Aber Kronos hatte recht. Methos hatte sie weggeworfen. Sie war nichts. Als 
    Kronos sie zum erstenmal tötete, war sie sogar dankbar, denn jetzt würde sie 
    Methos sicher nicht noch einmal zum Leben erwecken, und der Tod erschien ihr 
    erneut als die einzige sichere Flucht vor dem Entsetzen, der völligen Erniedrigung. 
    Dem Verlust ihrer Welt. Er war zu ihrer Welt geworden, aber es war alles eine 
    Lüge gewesen.
 Als sie erwachte, begriff sie, daß selbst dieses Entkommen ihr verwehrt bleiben 
    würde. Kronos war noch immer dabei, sie zu vergewaltigen. Er hatte sich wahrscheinlich 
    noch nicht einmal die Mühe gemacht, aufzuhören, während sie starb. Und wenn 
    er es endlich satt hatte, sie für ihren anmaßenden Glauben, Methos etwas bedeutet 
    zu haben, zu bestrafen, würde er sie den übrigen Ungeheuern übergeben.
 "Ich fasse es nicht, daß er mit einem blöden Weib wie dir so viel Zeit 
    verschwendet hat", zischte Kronos in ihr Ohr, und plötzlich erwachte 
    etwas Heißes, Verzehrendes in ihr, eine winzige Flamme des Hasses. Dankbar 
    gab sie der Flamme alles, was von ihrem Wesen noch übrig war. Kronos mochte 
    sie zerstört haben, aber sie konnte seiner Genugtuung ein Ende bereiten, und 
    sie konnte verhindern, daß die anderen Ungeheuer sich auch noch beteiligten.
 Als Kronos sie wieder auf ihre Füße zerrte, schluchzte sie: "Nicht mehr! 
    Bitte, nicht noch mehr!"
 Dann begann sie damit, gehorsam zu sein, Kronos zu gefallen, wie Methos ihr 
    beigebracht hatte, einem Mann zu gefallen. Als sie vor ihm niederkniete, grunzte 
    Kronos zufrieden und sagte: "Vielleicht gebe ich dich doch nicht an Caspian 
    weiter."
 In ihren Haß mischte sich Verachtung. Gehorsam war nicht das einzige, was 
    sie in diesem Lager gelernt hatte. Sie hatte auch gelernt, zu töten. Als sie 
    Kronos eigenen Dolch benutzte, um ihn zu töten, entdeckte sie, daß die 
    wilde Befriedigung, die sie dabei empfand, sich völlig von dem Frieden unterschied, 
    den ihr die Anwendung ihrer tödlichen Gifte bereitet hatte. Oh ja, das war 
    etwas, an dem sie Geschmack finden konnte - die Ungeheuer zu töten, die sie 
    getötet hatten.
 Aber Methos konnte wahrscheinlich auch Kronos wieder zum Leben erwecken. Die 
    Erinnerung an Methos, wie er sich von ihr abwendete und sie an Kronos übergab, 
    schnitt ihr noch einmal ins Innerste. Sie brannte, genauso wie der Haß, der 
    ihr aus ihrer Verzweiflung geholfen hatte. Sie wollte ihn nicht wieder sehen. 
    Nie, nie wieder. Und wenn sie hier blieb, dann würde ein wieder erweckter 
    Kronos wohl seinen Wunsch erfüllen und sie zu einer endlosen Folter verurteilen. 
    Nein. Alles andere war besser als das. Also stand sie auf, stolperte auf den 
    Zelteingang zu und begann, zu rennen.
   
   Das Gesicht, das ihr aus dem 
    klaren Wasser entgegen sieht, wirkt immer noch ausgehungert, aber es ist zumindest 
    wieder menschlich. Zwei Wochen voll regelmäßigem Essen und ausreichendem Wasser 
    haben eine Menge bewirkt. Nicht nur ist ihr Äußeres wieder halbwegs hergestellt, 
    sie kann auch zum ersten Mal, seit ihr Dorf zerstört wurde, wieder spüren, 
    wie ihre Kräfte zurückkehren. Ihre Kräfte, nicht die des Todes. Und 
    mit ihnen ihr Verstand. Sie war nie seine Erwählte, obwohl sie vielleicht 
    sein Geschöpf gewesen sein mochte; sie war nie mehr als eine Sklavin für ihn. 
    Doch sie hat ihre eigene Magie. Die Erde hat sie wieder als ihre Priesterin 
    angenommen. Und so spricht sie ihren Fluch, der ihre Feinde gewiß finden wird, 
    ganz gleich, wo sie sich befinden, ganz gleich, wie lange sie leben. Sie erhebt sich, und wendet sich zunächst nach Norden.
 "Ich nenne euch beim Namen. Dich, Silas, nenne ich Krieg. Da nichts außer 
    Kampf und Mord dir Freude bringt, wirst du Krieg dort finden, wo du Frieden 
    suchst, und durch ihn sterben."
 Mit ausgestreckten Armen spürt sie, wie die Macht sie durchströmt, und wendet 
    sich nach Osten.
 "Dich, Caspian, nenne ich Hunger. Da du deine Freude an Menschenfleisch 
    findest, soll nichts je wieder deinen Hunger stillen, bis er dich verzehrt 
    hat."
 Mit weit geöffneten Augen und ohne vor dem blendenden Schmerz zurückzuschrecken, 
    richtet sie sich dann nach Süden, zum Sitz der Sonne, die sie so lange gequält 
    hat.
 "Kronos, ich nenne dich Seuche. Da du alles mit deinem Haß und deiner 
    Bosheit vergiftest, was du berührst, wird das, was dir am teuersten ist, wie 
    Gift für dich sein und dir den Tod bringen."
 Einen Moment lang hält sie inne, sammelt sich, und spürt, wie die Macht ihr 
    gehorcht, als wäre sie nie fort gewesen, als sie sich schließlich nach Westen 
    wendet.
 "Und du, Methos. Ich nenne dich Tod. Du wolltest nichts als der Tod sein, 
    und so ist das dein Schicksal. Jeder Mensch um dich herum, jedes Wesen, an 
    dem du hängst, wird sterben, und du wirst nicht wieder Methos sein, bis deine 
    Welt zerstört ist, so wie du die meine zerstört hast."
 Damit endet sie, obwohl sie noch etwas anderes hinzufügen will. Aber es bleibt 
    unausge-sprochen. Sie weiß es nun besser. Doch der Gedanke, die Vorstellung, 
    wie der Fluch enden soll, bleibt, und hängt wie Dunst über dem ruhigen Wasser, 
    als sie es verläßt.
 Bis wir uns wiedersehen, 
    Methos. Bis wir uns wiedersehen. |